Twig im Dunkelwaldvon Paul StewartKinder-LesungPatmos Verlag 2002Dauer: 3 Stunden 36 Minuten 01 SekundenWeit, weit weg, in einer fernen Welt, ragt wie die Galionsfigur eines gewaltigen steinernen Schiffes das so genannte Klippenland ins Leere. Ein reißender Strom ergießt sich unablässig über den felsigen Überhang.Der Strom ist an dieser Stelle breit angeschwollen. Donnernd stürzt er in die wabernden Nebel des Abgrunds. Man kann ihn sich - wie alle großen, laut und wichtig daherkommenden Dinge - gar nicht anders vorstellen. Dabei könnte sein Ursprung bescheidener nicht sein.Der Klippenfluss entspringt tief im Landesinneren, hoch droben im undurchdringlichen, unheimlichen Dunkelwald. Aus einem kleinen, blubbernden Teich rinnt ein Bächlein kaum breiter als ein Stück Schnur in ein sandiges Kiesbett. Der majestätische Dunkelwald lässt das Rinnsal noch tausendmal unbedeutender wirken.Der tiefe Dunkelwald ist ein unwirtlicher, gefährlicher Ort für die, die hier zu Hause sind, und das sind viele. Waldtrolle, Schlächter, Höhlenfurien und andere merkwürdige Geschöpfe und Kreaturen, sie alle fristen in der sonnengesprenkelten und mondbeschienenen Welt unter dem hohen Blätterdach ein kärgliches Leben.Das Leben ist hart und auf Schritt und Tritt lauern Gefahren - schreckliche Ungeheuer, Fleisch fressende Bäume, kleine und große wilde Tiere, die in Horden durch den Wald streifen ... Doch hat das Leben auch seine einträglichen Seiten. Die saftigen Früchte und leichten Hölzer, die dort wachsen, genießen hohe Wertschätzung. Himmelspiraten und die Kaufleute der Liga treiben damit um die Wette Handel und tragen hoch über dem endlosen Meer grüner Wipfel ihre Rivalitäten aus.Dort, wo die Wolken am tiefsten über dem Boden hängen, liegt die so genannte Nebelkante, eine trostlose, von wirbelnden Nebeln, Geistern und Alpträumen erfüllte Ödnis. Wer sich hierher verirrt, erleidet unweigerlich eins von zwei Schicksalen: Die Glücklichen stolpern gleich über den Rand der Klippe und stürzen zu Tode, die weniger Glücklichen gelangen in den Dämmerwald.Durchtränkt von ewigem, goldenem Dämmerlicht, ist der Dämmerwald ein bezaubernder, zugleich aber auch tückischer Ort. Die Luft dort steigt einem zu Kopf. Wer sie zu lange einatmet, vergisst, warum er in den Dämmerwald gekommen ist, wie jene Ritter, ausgeschickt in längst vergessener Mission, die sich dorthin verirrt haben und am liebsten sterben würden - wenn sie nur könnten.Gelegentlich wird die lastende Stille durch heftige, von der Klippe heraufziehende Unwetter gestört. Vom Dämmerwald angezogen wie Eisenspäne von einem Magneten oder Nachtfalter von einer Flamme, wirbeln sie über den glühenden Himmel - zuweilen gleich mehrere Tage hintereinander. Manchmal sind es ganz besondere Stürme. Aus den Blitzen, die sie nach unten schleudern, entsteht Sturmphrax, ein Stoff, der so kostbar ist, dass auch er trotz der schrecklichen Gefahren des Dämmerwalds wie ein Magnet oder eine Flamme alle diejenigen anzieht, die ihn besitzen wollen.Die unteren Ausläufer des Dämmerwalds gehen in die Modersümpfe über, einen stinkenden, verseuchten Landstrich, voll gepumpt mit den Abfällen der Fabriken und Gießereien von Unterstadt. Der Müll wird hier schon so lange gelagert, dass das Land so gut wie tot ist. Trotzdem gibt es noch Leben wie überall im Klippenland, Trödler und Lumpensammler mit entzündeten Augen und einer Haut so fahl wie ihre Umgebung. Einige verdingen sich als Fremdenführer. Sie führen ihre Schützlinge durch die giftigen Dämpfe und den trügerischen Morast dieser Wüstenei, rauben sie bis auf den letzten Heller aus und überlassen sie dann ihrem Schicksal.Wer es trotzdem durch die Sümpfe schafft, gelangt in ein Labyrinth aus schmutzigen Gassen und windschiefen Hütten auf beiden Seiten des ölig schillernden Klippenflusses. Der Gerettete befindet sich in Unterstadt.Die Bevölkerung in den engen Gassen setzt sich aus den kuriosen Gestalten und Kreaturen des Klippenlandes zusammen. Unterstadt ist schmutzig, überbevölkert und eine Brutstätte der Gewalt, zugleich aber auch der Mittelpunkt des Handels und des Schwarzmarkts. Es wimmelt vor Geschäftigkeit. Jeder, der hier lebt, geht einem auf einen bestimmten Stadtteil beschränkten Gewerbe nach und ist Mitglied der entsprechenden Liga. Dies führt zu Intrigen und Verschwörungen, bitterer Rivalität und ständigen Reibereien der Stadtteile, Ligen und Händler untereinander. Die Mitglieder der Liga der freien Kaufleute hält nur eins zusammen: der gemeinsame Hass auf die gefürchteten Himmelspiraten, die mit ihren Schiffen den Himmel über dem Klippenland beherrschen und glücklose Kaufleute, die ihren Weg kreuzen, ausrauben.In der Mitte von Unterstadt ist ein großer, eiserner Ring in den Boden eingelassen. Er hält eine lange und schwere Kette, die zum Himmel aufsteigt und abwechselnd straff gespannt ist und locker durchhängt. Am Ende der Kette schwebt ein riesiger Felsen.Dieser Felsen ist wie die anderen schwebenden Felsen des Klippenlandes in den Steinernen Gärten gewachsen - er drückte von unten durch den Boden, wuchs, wurde von darunter nachwachsenden Felsen noch weiter hinausgedrückt und vergrößerte sich noch mehr. Als er so groß und leicht war, dass er vom Boden abhob, wurde er an der Kette befestigt. Auf ihm wurde eine prächtige Stadt errichtet: Sanktaphrax.Sanktaphrax mit seinen hohen, durch Stege und Brücken verbundenen Türmen ist ein Hort der Gelehrsamkeit. Dort leben Wissenschaftler und Alchemisten mit ihren Gehilfen und es gibt Bibliotheken, Laboratorien, Vortragssäle, Speisesäle und Gemeinschaftsräume. Die mysteriösen Dinge, die man dort lernt, sind ein streng gehütetes Geheimnis und Sanktaphrax ist bei aller scheinbaren Entrücktheit und Weltfremdheit ein siedender Kessel von Eifersüchteleien, Intrigen und bitterem Zank.Der Dunkelwald, die Nebelkante, der Dämmerwald, die Modersümpfe, die Steinernen Gärten, Unterstadt und Sanktaphrax, der Klippenfluss - das sind bislang nur Namen auf einer Karte.Doch zu jedem Namen gehören tausend Geschichten, auf uralten Pergamentrollen aufgezeichnet und von Generation zu Generation mündlich überliefert, Geschichten, die heute noch erzählt werden.Was hier erzählt wird, ist nur eine davon.
Übersetzung aus dem EnglischenWolfram Ströle
BearbeitungKarin Lorenz
RegieKarin Lorenz
LeserVolker Niederfahrenhorst
TonGeorg Niehusmann